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Mode-Sünden und Mini-Röcke

Neulich beim Edel-Italiener: Zwei Frauen und ein kleiner Junge bahnen sich den Weg durch das Lokal zu ihrem Tisch. Beide Frauen sind sehr, sehr schlank und groß. Beide Frauen sind beinahe gleich angezogen. Sie tragen ein ärmelloses Mikro-Minikleid in leichter A-Form ohne Strümpfe und mit halsbrecherischen High Heels. Twiggy lässt grüßen.

Alle Personen im Restaurant drehen die Köpfe und verfolgen das Schauspiel – teils bewundernd, teils ungläubig, teils missbilligend. Die eine der Frauen scheint Mitte 40 zu sein, ein ehemaliges Model vielleicht. Die andere Frau ist offensichtlich ihre Mutter.

Schockiert oder alles ganz normal?

Rechnen Sie jetzt noch oder sind Sie schon schockiert? Oder finden Sie alles ganz normal? Stellen Sie sich jetzt gerade vor, wie wohl eine Frau in ihren 60er Jahren mit einem Mikro-Minikleid aussieht? Ich könnte es Ihnen in diesem Fall beschreiben, möchte hier aber nicht unhöflich werden.

Gibt es eine Grenze für guten Geschmack und wer definiert diese?

Für mich ist diese Situation ein Schlüsselbild: ein Beispiel dafür, wie fließend die Grenze zwischen individueller Ausdrucks-Freiheit und einem stilvollen Auftritt sein kann.

Zum einen bin ich eine Verfechterin des modischen Liberalismus. Jede Frau hat das Recht, sich so anzuziehen, wie sie sich wohl fühlt und wie sie ihre Persönlichkeit ausdrücken möchte. Zum anderen gehört zum gesellschaftlichen Zusammenleben auch immer eine gehörige Portion Respekt und Rücksichtnahme – sprich: ein notwendiges Maß an Anpassung an gesellschaftliche Regeln.

Da es kein Mode-Gesetz gibt, sind allerdings Grenzüberschreitungen im modischen Bereich nur sehr schwer festzumachen und im Zweifelsfall vom subjektiven Empfinden des Betrachters abhängig. Kann das Auge eine Beleidigungsklage einreichen? Und wenn ja, auf welcher mehrheitlich demokratisch festgelegten Grundlage sollte das entschieden werden?

Brauchen wir Mode-Zensur und eine Fashion-Polizei?

Sie sehen, in diesem Bereich gibt es weit mehr Fragen als Antworten. Je mehr ich mich mit diesem Thema beschäftige, desto schwieriger wird es, Stellung zu beziehen.

Wer sollte Frauen über 60 Jahren das Tragen von Mikro-Minis verbieten? Oder liegt die Mini-Grenze vielleicht schon bei 30, 40 oder 50 Jahren? Dann könnte sich Madonna sofort zur Ruhe setzen… Allerdings habe ich auch schon 20-Jährige gesehen, die besser keine Minis tragen sollten.

Wenn ich mich auf der Straße umsehe, entdecke ich so viele vermeintliche Mode-Sünden, aber keine Fashion-Polizei – zumindest keine mit staatlicher Lizenz. Wer sich also nicht nur auf seinen eigenen Geschmack verlassen möchte, blickt auf die Stil-Päpste und –Päpstinnen der Mode-Szene. Diese definieren die „Dos und Donts“ für jede Saison neu, abhängig von Trends und ästhetischem Zeitgeist.

Das finde ich ebenfalls nur begrenzt hilfreich. Insbesondere wenn dadurch ein Modediktat entsteht und ich mich jede Saison neu einkleiden müsste, um diesem zu entsprechen. Alles was dem Wort „Diktatur“ ähnelt, ist mir ohnehin suspekt – wie im Übrigen alles, was „herrscht“ und dem man sich „beugen“ muss.

Ist das persönliche Wohlgefühl der Maßstab aller Dinge?

In einem Interview der Zeitschrift InStyle (Ausgabe Juni 2012) antwortet Madonna auf die Frage, wie lange Frauen sexy Outfits tragen können:

„Solange sie sich selbst darin wohlfühlen.“

Und Fashion Director Marcus Luft, der sich in seinem Style-Blog in der Zeitschrift Gala (vom 05.07.2012) mit dem Thema „Altersgrenze für Miniröcke“ auseinandersetzt, meint dazu:

„Es gibt schließlich für jedes Alter, jede Figur, jeden Typ und jedes Level an Selbstbewusstsein die passende Kleidung. Man muss sich einfach fragen, in welchen Klamotten man sich wohl (und somit gut) fühlt. Was das Umfeld sagt, ist da zweitrangig.“

Was ich davon ableite? Dass Mode und Stil eben eine sehr komplexe Mischung sind. Dabei spielen Variablen, wie Alter, Stil-Typ und der Wille, Mode als eine Ausdrucksform für persönliche Individualität zu nutzen, eine wesentliche Rolle.

Und kommt man dabei an die Grenzen des so genannten guten Geschmacks, entscheidet allein das Selbstbewusstsein der Trägerin darüber, ob und wie stark sie sich den gerade geltenden Stil-Regeln widersetzt. Im schlimmsten Fall ist es dann eben das Selbstbewusstsein, die Kritik und Missbilligung des Umfeldes zu ertragen – und sich dabei immer noch wohl zu fühlen.

Sollte gutes Styling Kraft kosten oder Kraft verleihen?

Ich selbst habe schon vor einiger Zeit entschieden, keine Mini-Röcke oder Shorts mehr in der Öffentlichkeit zu tragen. Das war kein plötzlicher Entschluss. Die Kleidungsstücke, die sehr viel Bein zeigen, haben sich einfach allmählich aus meinem Kleiderschrank verabschiedet.

Nach dem Vorbild der natürlichen Auslese haben „stärkere“ Kleidungsstücke das Terrain übernommen – Kleidung, die meiner Figur schmeichelt, sich an meinem Körper gut anfühlt und mir keine Selbstzweifel, sondern Freude bereitet. Ich finde, Kleidung sollte keine Kraft kosten, sondern Kraft verleihen. Die frei werdende Energie kann ich sehr gut für andere schöne Dinge im Leben einsetzen…

Was denken Sie über eine Altersgrenze für Miniröcke und Modediktate? Das würde mich wirklich interessieren!